Noch vor wenigen Jahren galt Storytelling als das Nonplusultra der Markenkommunikation: eine klare Markenbotschaft, eine sympathische Held:in, ein Konflikt, eine Transformation – fertig war die Markengeschichte. Doch in einer medialen Landschaft, in der Aufmerksamkeit fragmentiert, Algorithmen personalisiert und Erwartungen an Interaktivität exponentiell gestiegen sind, reicht eine lineare Erzählung nicht mehr aus. Die neue Ära heißt Worldbuilding – und sie entfaltet ihre volle Kraft gerade jetzt, im aufkeimenden Metaverse 2.0.
Aber was unterscheidet Worldbuilding wirklich vom klassischen Storytelling – und warum ist es mehr als ein weiterer Buzzword-Hype?
Was ist Worldbuilding? Und warum ist es kein Fantasy-Gag
Worldbuilding stammt ursprünglich aus Literatur, Film und Gaming: Es beschreibt den Prozess, in dem Autor:innen nicht nur eine Geschichte, sondern ein komplettes Universum erschaffen – mit eigener Geographie, Geschichte, Sprache, Kultur, Regeln und Charakteren, die auch jenseits der Hauptnarrative existieren. Denken Sie an Mittelerde, Westeros oder das Star-Wars-Universum: Jedes Detail ist durchdacht, jedes Artefakt hat eine Herkunft, jede Nebenfigur eine Backstory.
Für Marken bedeutet das: Statt einer einzigen Kampagnen-Geschichte bauen sie eine immersive Markenwelt, in der Kund:innen nicht nur rezipieren, sondern teilhaben können. Es geht nicht mehr primär darum, ein Produkt zu verkaufen, sondern einen Lebensstil, eine Haltung, ein Ökosystem zu etablieren – „It’s about selling a lifestyle, experiences“ .
Ein anschauliches Beispiel ist Hendrick’s Gin mit seinem Undersea Imaginarium: eine absurde, detaillierte Parallelwelt, in der Cucumber-Opern stattfinden, Teetassen fliegen und Forscher:innen nach dem „verlorenen Geschmack des Meeres“ suchen. Hier dient das Produkt nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Einstiegspunkt in eine bizarre, konsistente und liebenswert skurrile Universum .
Oder Liquid Death, die Mineralwasser-Marke, die sich wie ein Heavy-Metal-Label inszeniert – mit Merch, Musik-Veröffentlichungen und einer eigenen Fiktion um „Murder Your Thirst“. Sie verhalten sich weniger wie ein Getränkehersteller, „more like Netflix“ – also als Plattform für Inhalte innerhalb eines klar definierten kulturellen Kosmos.
Warum jetzt? Der Aufstieg des Metaverse 2.0
Der entscheidende Katalysator für den Durchbruch des Brand Worldbuildings ist die technologische Reife des sogenannten Metaverse 2.0. Im Gegensatz zur ersten, oft spielerisch überhöhten Welle (Metaverse 1.0), die stark auf Gaming und virtuelle Grundstücksspekulation setzte, definiert sich die aktuelle Phase durch reale Anwendungsfälle, technische Stabilität und unternehmerische Ernsthaftigkeit.
Metaverse 2.0 ist kein isolierter VR-Spielplatz mehr, sondern ein „shared virtual world where people, represented by avatars, can work together, attend meetings, train, and“ interagieren . Es ist ein „transformative digital ecosystem with real-world applications that are reshaping industries, education, and“ Gesellschaft . Und vor allem: Es ist kein monolithischer Raum mehr, sondern ein Spatial Web – ein Netzwerk interoperabler, räumlich verankerter Erlebnisse, die über verschiedene Plattformen, Geräte und Kontexte hinweg funktionieren.
Zentraler Baustein ist dabei Spatial Computing, also die computergestützte Verarbeitung räumlicher Daten in Echtzeit. Tools wie Apple Vision Pro treiben diese Entwicklung massiv voran – nicht als „Gaming-Konsole fürs Gesicht“, sondern als professionelles Interface für immersive Markenerlebnisse.
Bereits 2024 nutzten Marken wie Alo Yoga, E.l.f. Cosmetics und J.Crew das Gerät für erste Erlebnisse: eine virtuelle Umkleidekabine, ein interaktives Make-up-Tutorial in 3D, ein Wellness-Raum mit geführter Meditation . Diese sind kein technischer Gimmick, sondern zeigen, wie Markenwelten räumlich gedacht werden können: Produkte werden nicht mehr nur beschrieben, sondern erlebt – in einem kontextuellen Setting, das Markenwerte verkörpert .
Ein weiteres Beispiel ist die „Garage“-App für Vision Pro: Hier wird die Reparatur eines Fahrzeugs nicht als Service, sondern als interaktives Tutorial in einer virtuellen Werkstatt inszeniert – ein kleines Universum der Selbstermächtigung und technischen Neugier . Solche Anwendungen transformieren Customer Service in Community Experience.
Die fünf Säulen des erfolgreichen Brand Worldbuildings
Worldbuilding ohne Strategie ist bloß Dekoration. Wie Joelle Haddad betont: „lasting brand worlds emerge when strategy and creativity are built as one“ . Folgende Prinzipien machen den Unterschied:
- Konsistenz über Kanäle hinweg
Die Regeln der Markenwelt dürfen sich nicht zwischen Instagram, Website und VR-Erlebnis ändern. Farben, Tonfall, Charaktere, sogar physikalische Gesetze (ja, auch die!) müssen intern kohärent sein. - Lore statt Logline
Statt einer zentralen Botschaft entsteht eine Lore – ein Kanon von Geschichten, Mythen und Hintergründen. Nike tut dies mit seiner langjährigen Mythologie um Leistung, Grenzüberschreitung und Rebellion – jetzt erweitert um digitale Trainings-Welten in der Nike Training Club-App und virtuelle Lauf-Events. - Partizipation statt Passivität
Die Nutzer:innen sind nicht Zuschauer:innen, sondern Mitgestalter:innen. Minecraft-Kampagnen (wie die von Gucci oder Balenciaga), bei denen Fans eigene Welten mit Marken-Assets bauen dürfen, sind Paradebeispiele. Im Metaverse 2.0 geht das weiter: eigene Avatare stylen, virtuelle Objekte co-kreieren, Quests lösen – das stärkt Bindung und Identifikation. - Interoperabilität als Ziel
Ein Kleidungsstück aus einer virtuellen Modenschau sollte theoretisch in mehreren Plattformen tragbar sein (z. B. als NFT-Gegenstand in Decentraland und als Skin in Fortnite). Das erfordert Standards – und Marken, die früh mit offenen Protokollen arbeiten, gewinnen langfristig an Reichweite. - Emotionale Tiefe durch Detail
Der Teufel – und die Magie – stecken im Detail. Warum verkauft Flamingo Estate nicht nur Kerzen, sondern auch Bücher über spirituelle Kräuterkunde ? Weil jede Veröffentlichung das Universum vertieft, es glaubwürdiger macht – und zusätzliche Touchpoints schafft.
Ausblick: Worldbuilding als Kernkompetenz der Marke 2026
Für 2026 zeichnet sich ab: Worldbuilding wird zur zentralen Markenstrategie, nicht zur Randerscheinung der Kreativabteilung. Unternehmen brauchen künftig nicht nur Brand Managers, sondern World Architects, Lore Keepers und Experience Designers.
Gleichzeitig wird die Technologie unsichtbarer: Spatial Interfaces, KI-generierte Umgebungen und haptisches Feedback verschmelzen zu Erlebnissen, „indistinguishable from reality“ . Die Grenze zwischen physischer und digitaler Markenwelt verwischt – Stichwort „phygital seamless“.
Doch Vorsicht: Worldbuilding birgt auch Risiken. Ein inkonsistentes Universum wirkt unseriös. Ein zu komplexes abschreckend. Und ein universum, das nur dem Verkauf dient – nicht der Wertschöpfung für die Community – wird schnell als leere Hülle entlarvt.
Die Marken, die in der Ära des Metaverse 2.0 bestehen werden, sind jene, die nicht nur erzählen, sondern erschaffen – die nicht nur eine Botschaft senden, sondern einen Raum öffnen. Einen Raum, in dem Menschen nicht konsumieren, sondern gehören. Denn am Ende ist jede starke Marke kein Produkt. Sie ist ein Ort. Eine Welt. Ein Zuhause.
Und wer baut schon gern in einer Welt, die morgen schon wieder verschwindet?
